Die Begleitung von Sterbenden stellt alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Offene, idiolektische Fragen helfen Betroffenen, ungehindert über das sprechen zu können, was ihnen wirklich wichtig ist.
Vor wenigen Tagen traf ich Schwester Anke im Stationszimmer einer Palliativstation. Sie saß verzweifelt über einer Tasse Tee. Ich setzte mich zu ihr und sagte erst mal nichts. Anke stützte den Kopf in die Hände und meinte „Frau Schuster, ich bin völlig fertig. Wir haben da die nette ältere Dame, Frau Meier, in Zimmer 107. Sie wird sicherlich sterben, darum ist sie ja hier. Leider wird das noch ein wenig dauern. Sie bittet uns immer wieder, dass wir sie umbringen sollen. Sie bittet so herzzerreißend, ich halte das kaum aus. Ich erkläre ihr dann immer, dass ich das nicht darf. Dann fällt sie in sich zusammen und sagt, dass ich ihr nur nicht helfen will. Können Sie nicht mal mit ihr reden?“
Leben im Umfeld von Sterben und Tod
Ich fragte Schwester Anke, was in ihrem Kopf passiere, wenn sie die Bitte Frau Meiers höre. Anke beschrieb, dass sie dann immer wütend und verzweifelt werde und nicht wisse, wie sie damit umgehen solle. Die Vorgänge rund um das Thema Sterben und Tod bringe alle Beteiligten, Profis wie Betroffene und ihre Familien, in Situationen, die neu seien. Es gebe wenige Muster, deren jahrelange Übung die Menschen durch diese Realitäten durchtragen.
Ich fragte Anke, ob sie Frau Meier einmal gefragt habe, was der Vorteil sei, wenn sie sterben würde. Anke sah mich verblüfft an. Auf diese Idee sei sie noch nicht gekommen. Sie sei so intensiv mit ihrer eigenen Wut und Verzweiflung beschäftigt gewesen, dass ihr diese Frage nicht in den Sinn gekommen sei. Nach kurzem Nachdenken meinte sie: „Aber, was mach ich denn, wenn sie danach noch mehr davon überzeugt ist, dass ich sie umbringen soll?“ Die Eigenschaft von Abenteuern wie dem Leben im Umfeld von Sterben und Tod ist gelegentlich, dass offen ist, was kommt. Ich lächelte Schwester Anke an und ermunterte sie, dies mit mir einfach mal auszuprobieren.
Was Sterbenden wirklich wichtig ist
Vor allem Gespräche im Umfeld von Sterben und Tod bewegen sich naturgemäß auf unbekanntem Terrain. Auch Profis haben das Problem, dass sie selbst noch nicht gestorben sind und daher einfach nicht mitreden können. Eine gute Grundlage für das Gespräch ist, den eigenen Kopf zur Ruhe zu bringen. Es hilft, wenn man nicht allzu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Stille im eigenen Kopf sorgt dafür, dass Kapazität dafür da ist, zu hören, was der andere sagt. Hilfreich ist, dem anderen die Möglichkeit zu geben, über das zu sprechen, worüber er oder sie gern sprechen möchte.
Die einzusetzende Technik ist einfach: Zuhören und Fragen stellen, die sich an dem orientieren, was der andere sagt. Die Fragen sollten dazu führen, dass der andere gut antworten kann. Sie sollten daher offen und kurz sein. Fünf bis sechs Worte reichen völlig aus. Auf die Worte zurückzugreifen, die das Gegenüber gesagt hat, sorgt dafür, dass man Interpretationsfehler und Missverständnisse vermeidet. Da man sich ohnehin nicht auskennt, macht es Sinn, professionelle Ratschläge zurückzuhalten. Das Gegenüber ist der Profi für seine individuelle Situation und hat vermutlich mehr Lösungen für sich selbst parat, als man sich das als Außenstehende vorstellen kann.
Nur durch Zuhören lernt man Neues
Zuhören macht Sinn. Nur durch Zuhören lernt man Neues, nicht durch Reden. Es hilft, sich angebotene Schlüsselwörter, Metaphern oder bildhafte Sprache ausführlich erklären zu lassen. Die Kontrolle des Dialogs ist dem Gesprächspartner zu überlassen. Kontrolle ist die Voraussetzung für Sicherheit, die wiederum wichtig und möglicherweise der entscheidende Faktor für Vertrauen und Verständnis ist. Es hilft, die nonverbalen Reaktionen des Gesprächspartners zu registrieren.
Gemeinsam gingen Schwester Anke und ich in Zimmer 107. Ich holte mir einen Stuhl und setzte mich zu Frau Meier ans Bett. Anke blieb mit verschränkten Armen an der Türe stehen. Ich lächelte Frau Meier an, stellte mich vor und fragte sie, ob sie Lust hätte, ein wenig mit mir zu plaudern. Es folgte ein Gespräch, dessen Ende etwas anders war, als Anke es erwartet hatte.
Frau Meier über Männer, Mäuse und die Mama
Frau Meier: „Wissen Sie, ich will eigentlich nur noch sterben. Ich frage die Schwestern schon immer, ob sie mir nichts geben können, dass es schneller geht. Aber die wollen mir ja auch nicht helfen.“
Was wäre denn anders, wenn Sie sterben würden?
Frau Meier: „Dann wäre ich bei meinem Mann.“
Was war denn Ihr Mann für einer?
Frau Meier: „Oh, mein Mann war ein ganz schöner Schlawiner. Aber wir haben uns gemocht. Wir waren unser ganzes Leben lang zusammen.“
Was war Ihr Mann denn für ein Schlawiner?
Frau Meier: „Oh, er hat früher für Ausländer und Leute mit Geld Umzüge gemacht. Und da hat er schon auch mal was mitgehen lassen. Aber im Großen und Ganzen war er ehrlich. Und er hat immer für uns gesorgt. Er fehlt mir so sehr.“
Was hat er denn zum Beispiel mal mitgehen lassen?
Frau Meier: „Einmal hat er eine riesige Mickey Mouse für unsere Tochter mitgehen lassen. Die war so groß wie das ganze Kind. Die hatte sie immer in ihrem Bett sitzen, viele Jahre.“
Was hatte Ihre Tochter denn für ein Bett?
Frau Meier: „Mein Mann hat ihr, als sie klein war, ein Prinzessinnenbett gemacht. So richtig mit Baldachin, in rosa. Das sah sehr königlich aus. Viel schöner als mein Bett, als ich Kind war.“
Was hatten Sie denn für ein Bett, als Sie ein Kind waren?
Frau Meier: „Ich schlief viele Jahre im Bett meiner Mutter, auf der Seite meines Vaters, der ja im Krieg war, da wars ganz warm und geborgen. Ich kann mich noch an den Geruch meiner Mutter erinnern. Das war schön.“
Das hört sich sehr schön an. Toll, dass Sie so eine gut riechende Mama hatten.
Frau Meier: „Da haben Sie Recht. Und das Gute ist: Wenn ich nun sterbe, wird sie auch da sein. Der Geruch meiner Mutter war ganz weg, wissen Sie? Aber jetzt gerade, jetzt habe ich ihn wieder. Den werde ich jetzt festhalten. Das ist schön.“
Ich blieb noch einige Minuten, hielt Frau Meiers Hand und stellte dann fest, dass sie eingeschlafen war. Als wir nach dem Gespräch wieder in der Stationsküche saßen, sah mich Schwester Anke eine Weile an. Dann streckte Sie mir die Keksdose hin und meinte: „Ok, das probiere ich auch mal aus. Nehmen Sie sich einen Keks, Frau Schuster. Den haben Sie sich verdient.“
Erstmals veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt I Heft 50 I 15. Dezember 2017