Keiner kann all jene Anforderungen erfüllen, die an Führungskräfte im Gesundheitswesen gestellt werden. Hilfreich ist, sich immer wieder die gleiche Frage zu stellen: Was ist jetzt im Moment gerade wichtig?
Vor einiger Zeit traf ich per Zufall den Chefarzt der chirurgischen Abteilung einer Klinik. Er sah nicht gut aus. Vorsichtig fragte ich, ob alles ok sei. „Nein, gar nicht“, sagte er. „Heute Morgen wollte mir mein Sohn erzählen, wie er gestern zwei Tore im Fußball geschossen hat. Ich habe ihn unterbrochen, weil ich in die Klinik musste. Meine harsche Reaktion machte ihn traurig. Mir wurde ganz kalt ums Herz, aber mein Schreibtisch war voll, ich hatte ein volles OP-Programm. Deshalb habe ich dieses Gefühl weggedrückt.
Dann kam mir beim Weg in den OP Schwester Karin entgegen. Im Vorbeigehen fragte ich sie, wie es ihr gehe, aber ehrlich gesagt, wollte ich das gar nicht wissen. Sie erzählte mir, dass ihr Enkel gestern einen Unfall hatte und in der Kopfklinik liege. Ich dachte spontan, Mist, nicht noch ein Problem. Ich fertigte sie mit drei Worten ab und bin in den OP. Ich habe mich den ganzen Tag schlecht gefühlt. Ich hatte so etwas wie eine Wand zwischen mir und der Welt. Die Handgriffe im OP saßen lange nicht so gut wie sonst. Gegen Mittag ging ich dann Assistenzarzt Müller verbal härter an als nötig, nur weil er im Weg herumstand. Was mache ich da eigentlich?“
Vielleicht zuerst Mensch, erst dann Chefarzt?
Nun ja, sagte ich zu ihm, vielleicht sei er ja zuallererst Mensch, dann Ehemann und Vater und dann erst Chefarzt. Dann müsse er viele Dinge anders machen, erwiderte er. Während eines Spaziergangs sprachen wir darüber, was er als wirklich wichtig erachte. Wir sprachen über Erfolg, Deadlines, das Vatersein und die Frage, woran er am Ende erkennen würde, dass er seine Sache im Leben gut gemacht habe. Als wir uns verabschiedeten, meinte er, er rufe jetzt seinen Sohn an und lade ihn zum Essen ein und mit Schwester Karin spreche er morgen.
Einige Zeit später traf ich ihn am Rande einer Veranstaltung wieder. Er kam lachend auf mich zu und sagte, unser Gespräch habe viel verändert. Dr. Müller, der Assistenzarzt, bleibe als Oberarzt in der Klinik und mache richtig gute Arbeit. Schwester Karin habe dafür gesorgt, dass die Abteilung zwei neue Kolleginnen im OP bekommen habe. Und mit seinem Sohn gehe er regelmäßig klettern. Seit er sich immer wieder frage, was gerade wirklich wichtig ist, treffe er andere Entscheidungen. Das OP-Programm laufe immer noch pünktlich auf die Minute, aber ihm gehe es viel besser und das merke auch sein Team.
Verwirrte Führungskräfte, verwirrte Teams
Menschen in Führungspositionen kommunizieren all das nach außen, was sie in sich tragen. Verwirrte Führungskräfte haben mit großer Wahrscheinlichkeit verwirrte Teams. Erschöpfte Chefs haben eine gute Chance, erschöpfte Teams zu haben. Das grundlegende Werkzeug einer Führungskraft ist in letzter Konsequenz sie selbst. Mit allem, was sie oder er ist, hat und kann. Natürlich spielt das Umfeld und die Bedingungen, in denen Führungskräfte arbeiten, eine Rolle. Letztlich ist es jedoch die Führungskraft selbst, die darüber entscheidet, wie sie mit all dem umgeht, was täglich an sie herangetragen wird.
Dazu gehört auch, wie sie mit dem Scheitern umgeht. Scheitern gehört zum Führungsalltag dazu und zwar häufiger, als dies von außen wahrnehmbar ist. Führungskräfte, die sich selbst und was ihnen wirklich wichtig ist, ignorieren, übergehen oder verraten, stehen sich höchst effizient selbst im Weg. Was ist wichtiger: Drei Minuten freundlicher Worte mit dem eigenen Kind oder drei Minuten früherer Start im OP? Den „Platz in der Seele“ zu haben, um einer fähigen Mitarbeiterin echtes Mitgefühl entgegenzubringen oder zwei Minuten früher am Schreibtisch zu sitzen?
Die eigene Intuition und Menschlichkeit
In Anbetracht der Summe aller Zwei- oder Drei-Minuten-Sequenzen im vollen Führungsalltag sind diese Fragen natürlich nicht leicht zu beantworten. Und genau deshalb kommt man als Führungskraft letztlich nicht darum herum, sich diese Fragen zu beantworten. Denn die Minuten summieren sich, auch jene, in denen man gegen die eigene Intuition, Menschlichkeit und Authentizität lebt und arbeitet.
Wer allzu viele Minuten gegen das lebt und arbeitet, was er im Innersten trägt, fängt an zu kämpfen, gegen sich, die anderen, die eigene Familie, die Mitarbeitenden. Kämpfen ist anstrengend, Entscheidungen werden schlechter, Fehler summieren sich, Ehen gehen in die Brüche, Mitarbeitende fühlen sich nicht wahrgenommen und gehen, Patienten werden als nervig wahrgenommen und das Leben wird schwerer. Wer sich dann noch mehr anstrengt und kämpft, ist vermutlich auf einem sicheren Weg, dauerhaft als Chef zu scheitern.
Authentisch zu führen heißt, sich selbst immer wieder zu fragen, was jetzt im Augenblick gerade wichtig ist, sich selbst zu glauben, was als Idee oder Gefühl entsteht, dieses wahrzunehmen, zu werten und in überlegter Weise danach zu handeln. Hingegen bedeutet authentisch zu sein nicht, den Vorgesetzten verbal anzugehen, weil sich das gerade richtig anfühlt. Authentizität im Führungsalltag bedeutet auch nicht, morgens in Ruhe zu verschlafen, weil einem gerade danach ist. Authentizität hat nichts mit Nachlässigkeit zu tun oder mit der Idee, sich gehen zu lassen.
Die Welt ist größer ist als der eigene Job
Der Führungsalltag im Gesundheitswesen ist hoch anspruchsvoll. Authentizität im Umgang mit sich selbst hilft, ausreichend Platz im Kopf zu haben, ein gutes Wort mit Mitarbeitenden zu wechseln, die dies gerade benötigen. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Mitarbeitenden im Hause bleiben. Denn dann merken sie, dass man menschlich mit ihnen umgeht. Ausreichend Mitarbeitende zu haben ist wiederum die klare Voraussetzung dafür, pünktlich an den Schreibtisch oder in den OP zu kommen.
Es hilft, als Führungskraft zu verstehen, dass die Welt größer ist als der eigene Job, ohne die eigene Bedeutung zu unterschätzen. Gute Führungskräfte sind relevant für den Erfolg eines Unternehmens und die Zukunft der Mitarbeitenden und Patienten. Letztlich führt das Leben immer mit. Authentizität und Klarheit hilft, genau dies wahrzunehmen und zum Bestandteil der täglichen Arbeit zu machen. Und genau das ist es, was Führung zu einer großartigen Aufgabe macht: Man arbeitet immer auch mit sich selbst – und das mitten im Leben.
Erstmals veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt I Heft 44 I 1. November 2019